Die Griechen und das Leiden des Samenkorns
Einführung
Wenn wir uns die Geschichte des Brotes bei den alten Griechen (Hellenen) als Maßstab für die gesellschaftliche Entwicklung nehmen, dann wird uns erst richtig bewusst, wie die Menschen die Natur und ihre Phänomene in ihre Entscheidungen eingebunden und gedeutet haben. Als die Menschheit dazu übergegangen ist, die Naturphänomene nicht nur zu deuten, zu verehren durch kultische Handlungen zu beeinflussen bzw. zu bannen, sondern sie zu personifizieren und ihnen ganz spezielle übermenschliche Kräfte und Eigenschaften zuzuschreiben, war ein besonderer Paradigmenwechsel im Zivilisationsprozess vollzogen. Dieser Wechsel vollzog sich über einen sehr langen Zeitraum und war regional sehr unterschiedlich. Von daher stammt von den Archäologen wahrscheinlich auch der Begriff „Hochkulturen“, weil es eben schon in grauer Vorzeit Volksgruppen gegeben hat, welche besondere Organisationsformen und über besondere Erkenntnisse über die Phänomene der Natur hatte.
Die ersten Bäcker waren im alten Ägypten zu Hause
Der Nil – das göttliche Geschenk an die Ägypter
Das alte Ägypten steht für viele bedeutsame menschliche und soziale Errungenschaften. Auch die Erfindung des Backens wird diesem Volke zugeschrieben. Wir wissen es aber nicht genau, ob in Ägypten tatsächlich die Wiege des Brotes stand. Fest steht, dass diese einstige Hochkultur von Beginn an, bis hin zu ihrer Blütezeit, geprägt und bestimmt war, von den überwältigenden Auswirkungen des Nils. Die jährlichen Überschwemmungen mit dem über hunderte von Kilometern angereicherten Schlamm, waren dafür verantwortlich, dass im unteren Verlauf des Nils wertvollstes Erdreich wirtschaftlich genutzt werden konnte. Die Menschen in dieser Region erkannten diese günstigen Voraussetzungen. Trotzdem zogen sich die Beobachtungen über viele, viele Generationen, bis die Nutzbarmachung dieser Vorteile eine gewisse Kontinuität aufweisen konnte. Dammbauten, Kanalsysteme und ziehbrunnenartige Bauten zeugen von diesen Errungenschaften. Allerdings, wie bei allen Flüssen und Strömen bekamen die Menschen auch am Nil, die unbändige und nicht beherrschbare Kraft des Wassers zu spüren, der man immer wieder machtlos gegenüberstand. Landstriche, Behausungen, Tiere und Menschen wurden verschlungen. Diese wiederkehrende Ohnmacht bewegte wahrscheinlich unsere Urahnen, durch Opfergaben von Tieren und leider auch Menschen, das Naturelement Wasser für sich günstig zu stimmen.
Bei der Bearbeitung des fruchtbaren Bodens kamen den Ägyptern ein weiterer – klimatischer – Vorteil zu Gute, nämlich, dass nach der ersten Überflutung, die Sonne die Tonerde, wie von einem Pflug aufriss, und die sich zurückschwemmende Überflutung nochmals für eine Anreicherung des Erdreichs sorgte. Dann konnte die Bearbeitung des Bodens beginnen. Zwei Männer mit Pflug und Zugtier machten sich an die Arbeit. Bevor die Aussaat begann, mussten allerdings noch große Schollen mit einer Hacke zerkleinert werden. Von den Kornschreibern wurden genau bestimmte Mengen von Saatgut verteilt. Aus der Zeit von König Mena (3.200 v. Chr.) wissen wir, dass das Saatgut von einem Beamtenapparat verwaltet wurde, und für das zur Verfügung stehende Saatgut ein bestimmter Anteil der Ernte als Gegenleistung wieder abgegeben werden musste. Bei Abbildungen von der Ernte des Getreides fällt auf, dass nur der oberste Teils des Getreidehalmes mit einer Sichel abgeschnitten wurde. Dies wurde von Archäologen dahingehend gedeutet, dass man dem Naturelement Erde, aus besonderer Dankbarkeit für den Ertrag, einen Teil wieder zurückgeben wollte. In einem Schatzhaus wurden die gedroschenen Getreidekörner gesammelt und verwaltet. Mit diesem Ertrag wurden alle königlichen Bediensteten entlohnt. Ein großer Teil wurde wiederum als Saatgut wirtschaftlich genutzt. Somit war das Getreide über viele Jahrhunderte auch das beständigste und wichtigste Tausch- und Zahlungsmittel der Ägypter.
Vom Getreidebrei zum Fladenbrot
Von vielen, vielen Ausgrabungen und Überlieferungen, und von griechischen und römischen Geschichtsschreibern wissen wir von verschiedensten Völkern darüber Bescheid, welche Getreidearten wo und wie angebaut wurden. Über die verwendeten Geräte und in neuester Zeit auch durch Untersuchungen an den Skeletten selbst, können wir feststellen, in welcher Form das Getreide für den Verzehr zubereitet wurde. Dabei haben es viele Kulturvölker bis zum Getreidefladen geschafft. Der Getreidebrei wurde einfach auf heiße Steinplatten, oder in die glühende Asche gelegt, und geröstet. Erhitzte Steine in eine mit Lehm ausgelegte Grube, die mit Getreidebrei gefüllt wurde, zu legen, war eine weitere, bewiesene Methode, den Getreidebrei schmackhafter und länger haltbar zu machen. Teile dieser Methoden haben sich bei verschiedenen Kulturvölkern bis in die Gegenwart erhalten. So gibt es im jüdischen Kulturkreis das ungesäuerte Brot, im christlich österlichen Kulturkreis den Fochaz (Osterfleck), der eine Nachempfindung des ursprünglichen Aschenbrotes sein soll. Führte vielleicht doch der Zufall Regie, dass im Alten Ägypten ein Getreidebrei übersehen wurde, und durch die in der Luft vorhandenen Mikroorganismen gelockert wurde. Das ist immer noch ein großes Geheimnis. Dieses gelockerte Stück Getreidebrei dürfte durch Erhitzung auf einem heißen Stein nicht nur schmackhafter, sondern auch leichter verdaulich gewesen sein. Das war die Geburtsstunde des Brotes. Und später die Erkenntnis, dass es Vorteile bringt, wenn man den Getreidebrei nicht einfach zum Entwickeln der Natur überlässt, sondern eine viel bessere Basis hat, indem einen Teil des Teiges für das nächste Backen zurückhält, dürfte ebenfalls ein Meilenstein bei der Brotherstellung gewesen sein. Bis man allerdings erkannte, dass die gelockerte Getreidefladen in einem erhitzten und geschlossenen Hohlraum, sprich Backofen, noch bekömmlicher werden, dürfte viele Generationen in Anspruch genommen haben. Der ersten Backöfen waren aus Nilschlammziegeln, zylinderförmig mit einem oben sich enger werdenden Kegelstumpf. Der Innenraum wurde mit einer Platte geteilt, der untere Teil wurde zum Beheizen mit einem Loch versehen, im oberen Teil wurden die Teigstücke zum Backen aufgelegt. Zum Entweichen der Gase wurde der obere Stumpf offen gelassen.
Als die Juden der Bibel Ägypten kennerlernten, war die Brotherstellung und neben ihr auch die Bierherstellung bereits enorm verbessert und verfeinert, und wie wir wissen, ein wesentlicher Bestandteil des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens im Alten Ägypten. Diese genauen Kenntnisse über das „Alte Ägypten“ verdanken wir vor allem den Wandmalereien, einem wichtigen Teilbereich des Totenkultes, die der Seele der Verstorbenen (Kâ) als Orientierungshilfe diente.
Brotherstellung in Ägypten
Abbildung/oben1 - 2 Männer bearbeiten mit den Füßen einen Teig. Um im glitschigen Teig nicht aus der Balance zu kommen, wurden Stangen benutzt.
Abbildung/oben2 - Wasserträger tragen Amphoren zu einem Tisch, wo ein anderer Gehilfe mit den Händen einen Teig ausdrückt.
Abbildung/oben3 - Eine Backpfanne wird von unten beheizt, auf die mit einer großen Zange ein geformtes Teigstück gelegt wird.
Abbildung/oben4 - Ein turmartiger Backofen wird beheizt.
Abbildungen/Mitte - verschiedene Arbeiten im Bereich der Formgebung; eine Vielzahl von Amphoren, die wahrscheinlich mit gegorenem Teig gefüllt waren.
Abbildungen/unten - verschiedene Methoden der Backofenarbeit, turmartiger Backofen und Backpfanne
H. E. Jakob - Kurzbiografie
Geb. am 7. Oktober 1889
als Henry Edward Jacob
in Berlin-Friedrichstadt;
gest. am 25. Oktober 1967 in Salzburg
war Journalist und Schriftsteller.
Jacob wuchs in einer Bildungsbürgerfamilie der alten deutsch-jüdischen Geisteswelt auf. Nach dem Besuch von Gymnasien in Berlin und Wien legte Jacob 1909 sein Abitur am „Askanischen Gymnasium“ in Berlin – wo er durch seinen Lehrer Otto Gruppe (1851–1921) altphilologisch geprägt wurde – ab und begann an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität-Berlin Germanistik, Literatur-Geschichte und Musikwissenschaft zu studieren.
Und genau dieser Bildungskanon ist es auch, der dieses Buch für mich so einmalig macht. Es steht zwar die Brotgeschichte im Vordergrund, aber alle Geschichten sind eingebettet in einen politischen, religiösen, gesellschaftlichen und wirtschaftsgeschichtlichen Rahmen, Er macht die Geschichten auch insofern spannend, dass er über die sechs Jahrtausende fiktive Personen und Gesellschaftsgruppen in Form von Dialogen, Monologen und Gedanken zu Wort kommen lässt, und dadurch eine besonders lebendige und unterhaltsame Erzählform entsteht. Diese besondere Art der Erzählung ist es aber leider auch, dass dieses Buch im wissenschaftlichen Historizismus nicht bzw. nur sehr eingeschränkt verwendet werden kann. Trotzdem war ich von den Geschichten begeistert und möchte eine überarbeitete und verkürzte Version einem interessierten Publikum zur Verfügung stellen., welches Interesse an geschichtlichen Hintergrundinformationen zum Thema Brot hat, Als Kulturhistoriker und hier im besonderen Maße als Brotforscher ist es mir ein besonderes Anliegen, diesem wichtigen Grundnahrungsmittel wieder eine Seele einzuhauchen und so über das Phänomen „Brot“ einen erweiterten Zugang zu gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Problemstellungen zu finden.
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Die Legende vom Pflug
Vorwort
Im 19. Jahrhundert hatte Gustave Tarde (franz. Soziologe) noch gelehrt, dass Kultur durch Nachahmung entsteht. Wenn wir davon ausgehen, dass Kultur die bewusste, systematische und gezielte Nutzbarmachung und Veränderung der Natur in einem neu organisierten Raum durch den Menschen ist, dann müssen wir unbedingt berücksichtigen, dass es der Menschheit über Jahrtausende gelungen ist, nicht nur durch Beobachtung, sondern durch Verknüpfung von Beobachtungen zu neuen Erkenntnissen zu kommen.
Laut Jakobs lehren uns die frühesten Pflugformen in Mooren und in Pfahlbauten, wie die Wirklichkeit früher aussah und sich entwickelte. Die folgenden Beschreibungen geben Aufschluss, welche besonderen Merkmale für die damalige Geschichte der Menschheit bestimmend waren. Die intellektuelle Welt im ausgehenden 19. Jahrhundert vertrat damals die Ansicht, dass sich die Wirklichkeit auf Zeitstrecken abspielt, wo der menschliche Geist nicht mehr in der Lage ist, diese als Sachbericht darzustellen. Und so kam es noch in vielen Bereichen zur Legendenbildung. Laut Jakobs erfinden die Legenden nichts, sie drängen lediglich zusammen und bedeuten eigentlich eine „Lese-Anweisung“.
Die Geschichte der Menschheit nach Jakobs
Die Geschichte der Menschheit wird bei Jakobs, fast ein bisschen naiv für die heutige Zeit, wie folgt beschrieben: In ältester Zeit war der Mensch Jäger. Sein Jagdglück war sein Schicksal. Bald aber lernte er das Feuer beherrschen und somit das Fleisch durch die Berührung mit dem Feuer haltbarer zu machen. Nach einigen Tagen war der Vorrat aber wieder aufgebraucht und neuerdings hing das Schicksal am Jagdglück. Die nächste Entwicklungsstufe war die Domestizierung der Tiere. Nicht töten wurde zum primären Ziel, sondern einfangen. Dabei war eine weitere Erkenntnis von großer Bedeutung, dass männliche und weibliche Tiere gefangen werden mussten, um für den notwendigen Nachwuchs zu sorgen. So wurde der Sohn des Jägers Hirte. Er konnte die verschiedenen Verhaltensweisen der domestizierten Tiere beobachten, dass sie die verschiedenen Früchte der Erde aßen und Früchte von den Bäumen rissen. Nun beginnt die erste Arbeitsteilung innerhalb der Sippe. Der alte Jäger wird zum Hirten, der kräftige Sohn zum Jäger. Und dann kamen die Frauen ins Spiel und wurden mächtiger als die Männer. Sie beobachteten nicht nur den Werdegang der Samen und Saaten, sondern sie erkannten auch die Kräfte der Kräuter und Pflanzen. Die heilbringenden bis furchterregenden Naturerscheinungen wurden mit besonderem Augenmerk verfolgt und mit den anderen Naturbeobachtungen verglichen und bewertet. Um die Angst und die Ohnmacht zu überwinden, hat man gegorenen Zucker, der aus der Rinde der Bäume hervortrag, gekaut, und sich so in einen Rauschzustand zu begeben. Die gegorenen Getränke wurden auch bei Verehrungsritualen gegenüber den Naturelementen getrunken.
Die Legende von der Erfindung des Pfluges
Und dabei soll einmal folgendes passiert sein: Im Übermut nahm ein Mann eine Hacke und schlug sie so fest ins Erdreich, dass sie niemand mehr herauszerren konnte. Während alle staunten, nahm der Hausherr einen seiner Stiere und band ihn mit einer unzerreißbaren Faser an die Hacke. Der Stier zog eine tiefe lange Furche ins Erdreich. Schlussendlich richtete der Stier sein Haupt zur Sonne und brüllte, dass die Enden des Himmels erzitterten. Die Anwesenden bekamen Angst, und der Hausherr trennte den Stier wieder von der Hacke. Am nächsten Tag wollten die Männer die Furche wieder zuschütten, um sich mit dem Naturelement Erde zu versöhnen. Aber die Frauen hinderten sie daran. Sie wollten die vielen Mannessamen in den Schoß der Erdmutter legen. Die Erdmutter segnete diejenigen, die geholfen hatten, die Fruchtbarkeit zu steigern. Alles wuchs höher, grüner und ertragreicher. Die Menschen küssten und heiligten die Hacke als Wunderwerk. Der Pflug beschäftigte aber bei allen Kulturen weiterhin die geschlechtliche Fantasie der Menschen. Die Menschen, mit ihren damaligen Denkmustern (das Denken in Analogien), verglichen die Art, wie der Pflug in die Erde eindrang, mit dem Geschlechtsakt der Menschen. Die Griechen glaubten, dass die Erde eine, der vielen Geliebten des Zeus sei. Die eifersüchtige Erde rächte sich aber und nahm sich „Jasion“ zum Geliebten. Ein erzürnter Zeus erschlug darauf Jasion mit dem Blitz. Aber die Nachkommen des Jasion hörten nicht auf die Erde zu verehren und zu lieben, und sie mit dem „Aratron“, dem Pfluge, zu begatten.
So, sagt die Legende, erfand der Mensch den Pflug, eine der größten Errungenschaften der Menschheit.
Waren die Ameisen die ersten Ackerbauern?
Vorwort
Die Kultivierung der wildwachsenden Ährengräser steht ganz am Beginn der Brotgeschichte. Wahrscheinlich nutzten die prähistorischen Menschen über viele Jahrtausende nur die wildwachsenden Ährengräser als ergänzendes Nahrungsmittel während der Früh- bis Totreife. Erst im Zuge der Sesshaftwerdung, verbunden mit einer mehr oder weniger geregelten Vorratshaltung, begann die Geschichte des Ackerbaues. In der Tierwelt gibt es natürlich viele Zweckhandlungen, die von großartiger mathematischer, architektonischer oder physikalischer Art sind, aber der Ackerbau war über viele Jahrtausende der überragende Beweis der vollkommenen Göttlichkeit in der Natur und hatte daher natürlich auch in allen prähistorischen Religionen seinen entsprechenden Stellenwert. Daher war in der zweiten Hälfte des 19. Jhdt´s die Aufregung unter den Wissenschaftler auch entsprechend groß, als ein amerikanischer Forscher die Ameisen als erste Ackerbauern entdeckt zu haben glaubte, denn hier wäre das kausale Denken betroffen gewesen, was bis dahin nur dem menschlichen Wesen zugeschrieben wurde. Erst nach vielen Jahren konnte ein neuer wissenschaftlicher Zweig die Theorie vom „Ameisenreis“ relativieren bzw. widerlegen.
Das Ameisenrätsel
Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der großen Erfindungen und Entdeckungen. In diesem Jahrhundert wurde mehr entdeckt und erfunden als in der ganzen bisherigen jahrtausendealten Menschheitsgeschichte. Es gab aber auch durchaus absurde Beobachtungen und Entdeckungen, die einer späteren wissenschaftlichen Beurteilung nicht standhalten konnten, aber bei ihrer Veröffentlichung großes Aufsehen unter den Wissenschaftlern hervorgerufen hatte.
So muss es auch am 13. April 1861 in London gewesen sein, wo vor der ehrenwerten Linnè-Gesellschaft der große Charles Darwin zwei Briefe aus Amerika vorstellte, die ihn angeblich in höchste Erregung versetzten. Ein Arzt aus Texas, namens Dr. Gideon Lincecum, hat die Entstehung des Ackerbaues aufgedeckt. Seine jahrelangen Beobachtungen haben ergeben, dass der Ackerbau keine Erfindung des prähistorischen Menschen war, sondern die Ameisen die Ersten waren. Sie sollen die Ersten gewesen sein, die Aussaat und Ernte betrieben haben. Dies wurde im ersten Brief, wie folgt begründet:
„Um die Erdaufschüttung herum reinigt die Ameise den Grund von allen Hindernissen und planiert die Oberfläche bis etwa vier Fuß vor ihrem Stadttor. Es sieht aus wie gepflasterte Erde; und es sieht nicht nur so aus. Nicht ein einziges grünes Ding darf aus dieser Planierung wachsen mit Ausnahme einer einzigen Spezies: einer Art von samentragendem Gras. Nachdem das Insekt diese Spezies kreisrund um den Erdhügel gepflanzt hat, kultiviert es die Pflanze mit dauernder Sorgfalt, ausrottend alle anderen Gräser, die sich dazwischen geschlichen haben. Dieses Ameisengras sprießt üppig empor und liefert eine zahlreiche Ernte von kleinen, weißen, steinartigen Früchten. Das Insekt wacht über ihrem Reifen; dann pflückt es und bringt die Ernte heim; nach der Ernte wird nutzloses Grasstroh hinausgeworfen. Dieser Ameisenreis beginnt in den ersten Novembertagen zu sprießen. Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß diese spezielle Gräserart mit voller Absicht gepflanzt wurde.“
In einem zweiten Brief, dem ein Brief von Darwin, wo er seine Neugierde und Zweifel zum Ausdruck brachte, vorausging, versuchte der amerikanische Arzt jegliche Zweifel zu entkräften und mit handfesten Beweisen zu belegen. Bei den versammelten Wissenschaftlern kam es nunmehr zu heftigen Diskussionen, die ein Für und Wider dieser überraschenden Theorie zum Inhalt hatten und Darwin wurde von Mitgliedern der Linné Gesellschaft mitunter sogar dahingehend verspottet, einem Spaßvogel und einem Witz zum Opfer gefallen zu sein.
Die ursprüngliche Aufregung und die wissenschaftliche Auseinandersetzung waren allerdings nur von kurzer Dauer und die Theorie bzw. Geschichte geriet alsbald in Vergessenheit. Allerdings sollte 40 Jahre später die peinliche Geschichte von den Ameisen als Ackerbauern nochmals aktuell werden, weil ein gewisser Amerikaner namens M. Wheeler diese Geschichte zum Anlass nahm, um gegen Darwin zu polemisieren. Dabei war die Kritik von Wheeler weit überzogen, denn in der Zwischenzeit hat sich durch namhafte Wissenschaftler die „Myrmekologie“, als Lehre von den Ameisen etabliert. Die ersten wirklich brauchbaren Mikroskope bildeten die Grundlage für wissenschaftliche Beobachtungen. Dabei ging es nicht mehr um ackerbauliche Phänomene, sondern um die Beweggründe der Tiere und um die Kraft, die dahinterstand. Daraus entstand natürlich ein wissenschaftlicher Streit, aber dadurch entstand ein umfangreicher und faszinierender Einblick in die Lebenswelt der Ameisen. Einige biologische und soziale Beobachtungen sollen ein Beispiel davon geben, was alles beobachtet wurde: Ameisen produzieren einen Erkennungsgeruch. Sie entwickeln eine eigene Sprache, die aus Flügelschwingungen besteht. Sie entsagen sich der Sexualität, gleich nach der Hochzeit lassen sie die unnütz gewordenen männlichen Ameisen verhungern. Der Straßenbau, der Bau von Tunnels und Brücken, der Schlaf wurden von verschiedenen Wissenschaftlern in verschiedenen Ländern genauestens beobachtet. Die Aufzeichnungen ließen sich beliebig fortsetzen. Fakt ist, dass in der besagten Zeit den Ameisen beinahe mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde, als dem prähistorischen Menschen.
Je mehr man allerdings forschte, umso mehr wurde die ursprüngliche Theorie vom Ackerbau der Ameisen wissenschaftlich widerlegt, denn die Ameisen säen keine Samen und Körner, sondern sie machen geradezu das Gegenteil, sie sammeln diese lediglich zur Vorratshaltung. Der endgültige Beweis dafür gelang einem gewissen Ferdinand Goetsch 1937, der zu folgender wissenschaftlicher Erkenntnis kommt: Die Ameisenvölker haben zwei entgegensetzte Triebe, nämlich einen Sammel- und einen Bautrieb. Sie sammeln Körner, Holz und andere Materialien. Zum Bauen müssen vorerst wieder alle gesammelten Materialien herausgeschafft werden. Natürlich auch die Samen und Körner. Diese Beobachtung dürfte dann die Grundlage für die ursprüngliche Erkenntnis gewesen sein, dass die Ameisen Ackerbauern seien. Dabei wurde übersehen, dass die Samen und Körner nach Fertigstellung des Baues wieder als Vorrat hineingeschafft werden. Sollten in der Zwischenzeit einige Samen und Körner gekeimt bzw. aufgegangen sein, so war das Zufall und keineswegs beabsichtigt.